Leipzig von oben
Regie: Schwarwel | 2016 | Dauer: 23:00
„Leipzig von oben“ ist ein sehr bewegender, unfassbar intensiver und aufwühlender autobiografischer Film von Schwarwel über das Leben in Leipzig im Jahr 1000 seit seiner Ersterwähnung als „urbs Lipzi“, dem „Ort bei den Linden“, durch Thietmar von Merseburg im Jahre 1015.
Und „Leipzig von oben“ ist auch ein visuell faszinierender und emotional aufrüttelnder Film über das Sterben in Leipzig, nachdem man hier sein ganzes Leben als Bürger dieser Stadt gelebt hat, die 850 Jahre zuvor durch Otto den Reichen von Meißen ihr Stadt- und Marktrecht erteilt bekam, was es Leipzig erst möglich machte, seitdem zu einer der wichtigsten Handelsmetropolen in Deutschlands Mitte zu wachsen und zu gedeihen – mit allen Vor- und Nachteilen, die es mit sich bringt, eine Stadt jenseits der 500.000er-Einwohner-Marke zu sein.
Eine Stadt des Handels und der schönen Künste, der selbst 40 Jahre DDR-Mief diesen ganz speziellen Hauch von Weltstadt niemals austreiben konnte.
In der einfühlsamen und mitreißenden Geschichte von „Leipzig von oben“ begleiten wir einen Leipziger Autoren, der die Aufgabe hat, das Drehbuch für ebendiesen Film hier zu schreiben, der gerade im Rahmen der Feierlichkeiten zu 1000 Jahre Ersterwähnung Leipzigs entsteht.
Während sich der Autor mit der Recherche zur Stadtgeschichte und seinen Ideen und Ansätzen für die Story herumschlägt, ist er im Privaten in die häusliche Pflege und Betreuung seines sterbenden Vaters eingebunden.
Wir treffen den Autoren in der elterlichen Küche sitzend an, wo er die Nacht zwischen seiner Schreibarbeit am Laptop und dem Sterbebett seines Vaters im benachbarten Wohnzimmer verbringt. Dabei entspinnt sich in seinem Kopf eine Assoziationskette aus Erinnerungen, die neben dem Schmerz des Abschiednehmens auch immer die schönen, wichtigen und skurrilen Momente an Orten, mit Persönlichkeiten und Bürgern hervorbringt, die mit seinem und dem allgemeinen Leben in Leipzig fest verankert sind: mit dem Völkerschlachtdenkmal und dem Südfriedhof, mit der Friedlichen Revolution, der Judenverfolgung, der PEGIDA-Demonstration, mit dem Gewandhaus, dem St. Georg, mit dem Clara-Zetkin-Park und mit der Thomaskirche … mit Felix Mendelssohn Bartholdy, dessen Ouvertüre zu „Ein Sommernachtstraum“ op. 21, eingespielt vom Gewandhausorchester Leipzig unter der Leitung von Kurt Masur, „Leipzig von oben“ die musikalische Umrahmung gibt.
Der Autor lässt sich treiben in diesen Erinnerungen und Geschichten, die ihn mit seiner Familie und mit seinen Freunden ebenso verbinden wie mit Leipzig selbst, in dem er ebenso geboren wurde wie vor ihm sein Vater und nach ihm sein Sohn und sein Enkelsohn. Dieser Film ist kein Sightseeing mit dem Hop-on-hop-off-Bus, der uns nur an den Gebäuden der Stadt vorbeifährt, während der bemützte Stadtführer fröhlich plaudert, und der uns mal irgendwo für ein Foto und einen Kaffee kurz verweilen lässt – dieser Film ist eine Einladung in das echte Leben hinter den Fassaden dieser Stadt, um davon zu erzählen, wie es sich anfühlt als ein Einwohner der „Bach-Stadt“, der „Heldenstadt“, wie es so ist als ein Bürger von „Hypezig“.
Stilistisch gehen Regisseur Schwarwel und das Produktionsteam von Glücklicher Montag dabei konsequent den Weg weiter, den sie mit „Richard – Im Walkürenritt durch Wagners Leben“, „1813 – Gott mit uns“ (beide 2013) und „1989 – Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer“ (2014) eingeschlagen haben:
Realistische und ausgefeilt charakteristische Figuren und Handlungsorte, bildgewaltige klassische, handgemachte 2D-Animation auf dem aktuellsten Niveau.
Eine Animation-Novel, die sich an Filmen wie „Jin-Roh“, „Die letzten Glühwürmchen“, „Persepolis“, „Waltz with Bashir“ und an Schwarwels eigenem Erzähl-Zyklus „Seelenfresser“ orientiert – einprägsame Motive, starke Charaktere, dunkle Töne und satte Farben mit expressionistischem Einschlag, jedoch immer mit dem Fokus auf die Emotionen der Handlungsträger.
Dieser außergewöhnliche autobiografische Kurzfilm ist keine reine Nabelschau sondern ein positiver Film trotz oder gerade wegen der behandelten Themen und mitunter auch Tabu-Themen.
Die Zuschauer sollen sich selbst damit identifizieren können: Wo sind wir? Wo kommen wir her? Was hat die Geschichte mit dem Leben eines einzelnen Menschen zu tun?